Dillinger Erklärung
Erklärung der Teilnehmer an der Tagung „Chinesisch als spätbeginnende Fremdsprache am Gymnasium“ in Dillingen/Donau
Vom 15.-18.09.1997 fand in der bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen die Tagung „Chinesisch als spätbeginnende Fremdsprache am Gymnasium - Leistungsstandards für Schüler/innen und Lehrkräfte“ mit Chinesischlehrerinnen und -lehrern sowie Sinologen aus Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und der Schweiz statt. Diese Veranstaltung stellte die Fortsetzung einer Reihe von Arbeitssitzungen zum Themenbereich des gymnasialen Chinesischunterrichts in Deutschland dar, die der Fachverband Chinesisch e.V. seit 1984 organisiert. Seit dieser Zeit, die auch den Beginn der Öffnungspolitik der Volksrepublik China und der rapiden Zunahme der deutsch-chinesischen Beziehungen auf allen Gebieten markiert, hat sich der Chinesischunterricht an deutschen Gymnasien erheblich ausgeweitet.
Heute besteht wohl kein Zweifel mehr, daß im Zuge der enorm prosperierenden chinesischen Wirtschaft Chinesisch zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer der großen Fremd- und Verkehrssprachen der Welt avancieren wird. Im Hinblick auf diese absehbaren Entwicklungen möchten die Teilnehmer der Dillinger Tagung der KMK und den Kultusbehörden der Länder die folgenden Informationen und Vorschläge unterbreiten:
Derzeit wird in acht der sechzehn Bundesländer an insgesamt dreiunddreißig Gymnasien Chinesisch als Unterrichtsfach angeboten. Einschließlich zahlreicher kooperierender Schulen haben somit Schüler/innen von sechzig deutschen Gymnasien die Möglichkeit, in chinesischer Sprache und Landeskunde unterrichtet zu werden. Noch kein Angebot wird in Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland, in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen gemacht.
Lehrpläne bzw. Richtlinien für Chinesisch als spätbeginnende Fremdsprache liegen in Bayern, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen vor, in Baden-Württemberg ist ein entsprechender Lehrplan in Bearbeitung.
An mehreren deutschen Gymnasien wird Chinesisch bereits erfolgreich als Grundkursfach gelehrt, ist aber nur in einigen Bundesländern auch als Abiturfach wählbar.
Den Schleier des Exotischen hat das Chinesische glücklicherweise weitgehend verloren. Chinesisch ist schulisch mit hohem Lernertrag vermittelbar und ebenso erlernbar wie jede der anderen schulischen Fremdsprachen. Nach gut einem Jahrzehnt der Erprobungen und Evaluationen sowie des überregionalen Erfahrungsaustausches kann für den gymnasialen Chinesischunterricht auf einen sehr großen Bestand gesicherter Übereinstimmungen verwiesen werden, der die Schulbehörden ermutigen sollte, nunmehr dringend gebotene weitere Schritte auf dem Wege zu Chinesisch als regulärem Unterrichtsfach zu tun.
Die notwendigen Grundsatzdiskussionen sind geführt. Überregionale Einigkeit besteht inzwischen über die zu unterrichtenden Lernbereiche, über die Lernziele und Lerninhalte sowie die Prinzipien des Unterrichts. Damit ist es auch möglich geworden, Lehrpläne zu erstellen, die sich bei aller formalen Unterschiedlichkeit inhaltlich nicht wesentlich unterscheiden. Das bietet auch jenen Ländern feste Orientierungspunkte, die zukünftig entsprechende Lehrplanentwürfe erstellen wollen.
Der in jeder Hinsicht rasch wachsenden Bedeutung des Chinesischen entspricht inzwischen die enorme Nachfrage. Der Ruf der Wirtschaft nach mehr und besser ausgebildeten Chinesischexperten wird immer lauter. Schon heute werden Absolventen mit Chinesischkenntnissen anderen Bewerbern bei der Einstellung vorgezogen. Damit eröffnet Chinesisch für unsere Schüler zusätzliche Berufs- und Lebenschancen, die unser Bildungssystem ihnen gerade in arbeitspolitisch schwierigen Zeiten nicht verweigern darf. Staaten wie die USA oder auch unser Nachbarland Frankreich sind uns auf dem Gebiet des Angebots an Chinesischunterricht um Längen voraus.
Im Zuge der Hochschulreform tendieren die Universitäten verstärkt dazu, die Hochschulausbildung in Sinologie/Chinawissenschaften dadurch zu straffen und zu verwissenschaftlichen, daß verstärkt Studienanfänger mit einschlägigen Vorkenntnissen in chinesischer Sprache und Kultur aufgenommen werden. Das aber setzt den elementaren Spracherwerb bereits in der Schule voraus. Er allein ermöglicht in der Effektivität eine annähernde Vergleichbarkeit mit anderen sprachlichen Studienfächern.
Nachdem der Antrag Bayerns auf Verabschiedung Einheitlicher Prüfungsanforderungen für Chinesisch als Abiturfach und ein entsprechender Vorschlag den Ländern vorgelegt und hoffentlich in Kürze von der Kultusministerkonferenz positiv beschieden wird, ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen worden, daß Chinesisch über seinen bisherigen Randstatus hinauswachsen und von interessierten Schülern künftig auch als dritte bzw. zweite Fremdsprache belegt werden kann. Die Forderungen von Wirtschaft und Universitäten machen die prinzipielle Schaffung eines solchen Angebots an unsere Gymnasiasten unabdingbar. Für die Entwicklung von entsprechenden Richtlinien und Lehrplänen können die Kultusbehörden auf die Unterstützung durch den Fachverband Chinesisch zählen.
Um die Stellung des Chinesischen im Schul- und Bildungssystem der Bundesrepublik zu sichern, müssen möglichst bald Studiengänge zur Ausbildung für das Lehramt geprüfter Lehrer geschaffen werden. Solche Studiengänge und entsprechende Prüfungsordnungen sind in relativ kurzer Zeit zu erarbeiten, wenn man sich an die Bestimmungen für die anderen Schulsprachenfächer anlehnt und die dort gemachten Erfahrungen einbezieht. Eine Reihe sinologischer Institute an deutschen Universitäten wäre ohne größere Umstrukturierung in der Lage, Lehramtsanwärter für das Fach Chinesisch auszubilden.
Um die Qualität des derzeitigen und mittelfristig angebotenen Chinesischunterrichts sicherzustellen, ist es dringend geboten, den Lehrkräften ein regelmäßiges Fortbildungsangebot zu machen. Da mangels entsprechender Studiengänge die wenigsten der im Augenblick unterrichtenden Lehrer eine gleichermaßen umfassende Fachausbildung im Chinesischen und in der Didaktik vorweisen können, sollte - wie das bei anderen neu eingerichteten Schulfächern selbstverständlich ist - eine verstärkte Fortbildung dem Nachholbedarf gerecht werden. Mindestens ein bundesweit angebotener zweiwöchiger Fortbildungslehrgang jährlich sollte von den betroffenen Bundesländern auch finanziell gefördert werden.
Angesichts steigender Zahlen von Schülern und Schulen in Deutschland, die sich für die Fremdsprache Chinesisch interessieren, aber auch wegen der Vorgaben der schon vorhandenen und entstehenden Lehrpläne wird die Forderung nach einem Lehrmaterial immer akuter, das sich an den spezifischen Bedürfnissen und Zielen des Chinesischunterrichts an Gymnasien orientiert. Die meisten der bisher hilfsweise benutzten Materialien aus dem In- und Ausland weisen erhebliche Unzulänglichkeiten und Mängel auf. Das einzige in Deutschland für den gymnasialen Chinesischunterricht entwickelte und heute in fast allen Chinesischkursen verwendete Lehrbuch ist vor zehn Jahren für den akuten Bedarf entstanden, kann aber angesichts wachsender Ansprüche nur als vorübergehende Lösung verstanden werden. Die Teilnehmer der Dillinger Tagung schlagen deshalb die von den Kultusbehörden unterstützte Konstituierung einer bundesweit arbeitenden Kommission zur Entwicklung eines speziell für einen drei- bis vierjährigen gymnasialen Chinesischkurs geeigneten Lehrmaterials vor. Als Koordinationsstelle für dieses Projekt bietet sich das Ende 1997 zu eröffnende „Chinesische Zentrum“ in Hannover an, das künftig Aufgaben im Bereich der Didaktik des Chinesischen als Fremdsprache in Deutschland und europaweit übernehmen wird.